Der beste Fingersatz fühlt sich wie angegossen an, weil man bei der Erstellung auf ein winzig kleines Detail Wert gelegt hat. Die Kunst besteht darin, genau dieses Detail zu entdecken. Die Mühe lohnt sich. Wenn der Fingersatz leicht ausführbar ist und auch noch schön klingt, ist das schon der halbe Spielerfolg! Mit meinen Lieblingskniffen hast du die Kunst der Fingersätze viel sicherer drauf.
Je komplexere Stücke du auf der Geige oder Bratsche spielst, umso seltener hast du mit Fingersätzen zu tun, die eindeutig gut oder schlecht sind. In anspruchsvolleren Konzerten, Kadenzen, Capricen oder Fugen gibt es für eine Stelle fast immer mehrere Fingersatzmöglichkeiten. Wegen der technischen und musikalischen Vielschichtigkeit des Werkes bringen sie sowohl Vor-, als auch Nachteile mit sich.
„Dieser Fingersatz wäre nicht schlecht, aber…“
Wenn du seit längerer Zeit intensiv Geige oder Bratsche spielst, kennst du diesen Gedanken garantiert. Das berühmte Wörtchen aber. Mit ihm beginnt ein spannender Gedankengang. Am Ende soll ein Fingersatz gefunden werden, der funktioniert, d.h.
- zur Musik und
- zum Tempo passt,
- der Hand gut liegt,
- den der Kopf logisch findet.
Diesbezüglich kannst du nur einen einzigen wirklichen Fehler machen: den Gedankengang nicht durchzumachen. Glaub mir, hier ein paar Minuten zu ersparen ist wirklich nicht schlau. Denn du verlierst viel mehr Zeit mit dem Ärger und fruchtlosem Üben, das dir ein schlechter Fingersatz beschert. Nimm dir also genügend Zeit um dich zu fragen: was mache ich jetzt mit dieser Stelle?
Wie entscheidest du dich für oder gegen einen Fingersatz?
Ich empfehle dafür immer drei Schritte:
1. Pros und Contras der denkbaren Fingersätze abwägen
Jede Variante
- durchdenken, ohne sie in die Noten einzutragen,
- durchspielen und dabei
- wachsam zuhören.
Tipps:
- Keine Mischformen aus 2-3 machen. Bewusst einen Kandidaten nach dem anderen abarbeiten.
- Nach jeder Variante möglichst sachlich beschreiben, wie gut es zu deinen Vorstellungen über die Musik passt, wie angenehm er sich für die Hand anfühlt, wie er im Tempo klappt, wie leicht er dem Kopf fällt.
- Bei Unsicherheiten hilft es, die Varianten aufzunehmen und sich das anzuhören.
- Bei schnellen Tempi die Fingersätze auch im Endtempo ausprobieren. Wenn du die Stelle mit dem Fingersatz spielen kannst, kann er grünes Licht bekommen.
2. Varianten miteinander vergleichen
Zuerst wirst aus dem Bauchgefühl heraus sagen: dieser passt am besten. Meistens stimmt es auch. Es schadet trotzdem nicht, dir die klanglichen, musikalischen, technischen Pros und Contras aller möglichen Fingersätze bewusst zu machen und sie auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen.
3. Sich entscheiden
Du entscheidest im Idealfall je nach dem, welcher Fingersatz am besten deinen musikalischen Vorstellungen dient. Frag dich hier bewusst nach den Komponenten deiner Wunschvorstellung.
Welche(n)
- Klangfarbe,
- Dynamik,
- Ausdruck
hättest du gern? Das ist der Ausgangspunkt.
Danach erst frag dich, welcher Vorteil der Fingersätze dir lieber ist bzw. unter welchem Nachteil „leidet“ die Musik weniger? Aus den Antworten geht relativ schnell hervor, welcher Fingersatz gewinnt. Wie du für deine musikalische Vorstellung Ideen findest, erfährst du hier.
Wie finde ich heraus, welche Fingersatzmöglichkeiten überhaupt in Frage kommen?
Um die Schritte der Auswahl durchgehen zu können, brauchst du natürlich unterschiedliche Versionen für den Fingersatz. Um sie zu finden, brauchst du Anhaltspunkte, nach denen du sie überhaupt suchen kannst. Die folgenden Fragen führen dich zu den hilfreichsten Ausgangspunkten für die Fingersatzerstellung.
1. Wie kann meine Geige am besten singen?
Wenn es richtig cantabile werden soll, kannst du bewusst nach Gelegenheiten suchen, grössere Intervallsprünge im Legato auf einer Saite zu halten. V. a. in der Romantik und danach ist es eine schöne Lösung, Töne miteinander mit einem glissandoähnlichen, charmanten Lagenwechsel zu verbinden. Verwende diesen Effekt aber mit Maß.
Das Ende der folgenden Phrase kann mit dieser Strategie wunderschön gesanglich abgerundet werden. Beim Dominantseptakkord zwischen D und A-Saite wechseln, bei der Auflösung hingegen auf der D-Saite bleiben und hinaufrutschen.
Wie gefällt´s?
Ch. Beriot: Scène de ballet
2. Welche Klangfarbe möchte ich haben?
Fingersätze ergeben sich häufig aus der Klangvorstellung. Arbeite ganz klar heraus, welche Klangfarben du bei den jeweiligen Tönen hören möchtest.
- Dunkel wird die Klangfarbe auf tieferen Saiten, dafür in höheren Lagen.
- Heller, offener wird der Klang, wenn man höhere Saiten und tiefere Lagen wählt.
- Flageolett-Töne klingen offen, glänzend, luftig.
- Leere Saiten tragen mehr und klingen offener als gegriffene Töne.
In diesem langsamen Satz kannst du diese Möglichkeiten miteinander auf verschiedene Arten kombinieren und somit auf ganz viele verschiedene Fingersatzideen kommen. Ich finde es gerade bei langsamen, melodischen Stellen wichtig, den Fingersatz bewusst so festzulegen, dass man eine Mischung der Tonqualitäten bekommt. Die Klangfarben machen die Musik interessanter und lebendiger.
P.I. Tschaikowsky: Violinkonzert in D-Dur 2. Satz
3. Wie kann ich die Gestaltung von Wiederholungen mit dem Fingersatz unterstützen?
Je nach dem, wie du die Musik interpretierst, wählst du bei Wiederholungen eines Motivs oder Themas den gleichen oder unterschiedliche Fingersätze. Wie würdest du beim obigen Satz vorgehen?
4. Suggeriert mir der Rhythmus einen Fingersatz?
Es hilft enorm viel, den Fingersatz nach logischen Strukturen zu organisieren. Zu diesen Strukturen tragen rhythmische Gruppen ganz viel bei und sind deshalb häufig die besten Ausgangspunkte für das Konstruieren von logischen, einprägsamen Fingersätzen.
In diesem Beispiel erklingt die gleiche viertönige Figur viermal nacheinander, in immer höheren Oktavlagen. Die letzten drei Gruppen davon beginnst du am besten mit dem 1. Finger. Dadurch ist der Ablauf der Stelle sofort klar und leicht einzuprägen. Das Prinzip heisst: der Lagenwechsel kommt auf dem Schlag. Anders gesagt: eine rhythmische Gruppe – eine Lage.
E. Lalo: Symphonie espagnole 1. Satz
Das geht genau so gut mit triolischen Gruppen, wie hier:
F. Mendelssohn: Violinkonzert in e-moll 1. Satz
5. Suggeriert mir die harmonische Struktur einen Fingersatz?
Die Elemente harmonischer Sequenzen machen die Form der Musik immer deutlich. Am besten folgst du mit dem Fingersatz genau diesem formalen Verlauf, wenn es möglich ist.
Die folgenden Takte werden kinderleicht, wenn man jede Stufe der Sequenz mit dem 1. Finger beginnt. Diesen und den 2. Finger verschiebt man halbtaktweise chromatisch hinunter. Es ist logisch, leicht und wiederholt sich. Dann muss man nur mehr die Mittelstimme und die Bewegung rechts dazunehmen und fertig ist die Stelle.
Ch. Beriot: Violinkonzert in a-moll 3. Satz
6. Passt der Fingersatz zu den stilistischen Merkmalen der Epoche?
Beim FIngersatz in barocken und klassischen Stücken solltest du auf den Stil achten. Üblicherweise meidet man ein ausgiebiges Glissando und den Fingersatz dazu bzw. ist es eher die Ausnahme in diesen Epochen. In einem romantischen Werk kannst du es aber sehr gerne anwenden.
7. Gleicher Ton – unterschiedliche Finger?
Für die Gestaltung melodischer Stellen ist dies ein effektives Mittel. Gerade bei Momenten, wo sich Ausdruck, Charakter, Dynamik, Tempo ändern, kann man sehr gut mit dem Klangfarbenwechsel spielen.
J. Massenet: Méditation
8. Wo gibt es mehr Zeit zu wechseln?
Wo man die Lagenwechsel platziert, kann darüber entscheiden, ob man den Fingersatz als angenehm empfindet oder nicht. Bei punktierten Rhythmen in schnellen Tempi entlastet es z.B., den Lagenwechsel nach den längeren Notenwerten einzubauen. Nach den kürzeren Noten gibt´s ja einfach weniger Zeit.
An diesem Beispiel siehst du, wie ein praktischer Fingersatz in einem hohem Tempo bei einer Kette von punktierten Achteln aussehen kann.
P. Sarasate: Introduction et Tarantelle
9. Können Fingersatz und Strich Hand in Hand gehen?
Du kannst verschiedene Vorgänge gleichzeitig ausführen. So strukturierst du die Töne effektiver und leichter. In diesem Beispiel kannst du Lagenwechsel zwischen Bindebögen gut „verstecken“.
F. Mendelssohn: Violinkonzert in e-moll 1. Satz
10. Kann ich den Lagenwechsel bei Halbtönen machen?
Bei schnellen Tonleiterausschnitten ist das jedenfalls eine ratsame Lösung. Wenig Aufwand, mehr Deutlichkeit. Besonders bei fünftönigen Figuren, bei denen ich statt vier lieber fünf Spielfinger hätte, verwende ich diesen Trick gerne.
W. A. Mozart: Violinkonzert in A-Dur 1. Satz
Oben am Griffbrett sind ja die Abstände immer kleiner und man hat oft das Gefühl, dass die Finger nicht genug Platz haben bzw. werden Intervalle leicht zu weit intoniert. In hohen Lagen – v.a. im schnellen Tempo – ist es oft bequemer, die Töne eines Halbtons mit dem gleichen Finger zu greifen.
W.A. Mozart: Violinkonzert in D-Dur 2. Satz
11. Geht ein Lagenwechsel ohne Lagenwechsel?
Damit meine ich, nur einen Finger in die neue Lage „schummeln“, während die Hand in der alten Lage bleibt. Anschließend die Hand nachrücken. (Wie sich eine Raupe fortbewegt.) So kommst du ohne Sprünge und Schmieren in der neuen Lage an.
In diesem Takt kannst du die Achtelnoten in der 3. Lage anfangen, beim Gis einfach den 1. Finger hinunterstrecken und sofort nach dem Greifen den ganzen Arm in die 2. Lage hinunterziehen. Wenn du mit dem 2. Finger dann das A greifst, bist du schon unhörbar in der 2. Lage gelandet.
F. Mendelssohn: Violinkonzert in e-moll 1. Satz
12. Mit welchem Finger soll ich strecken?
Meistens streckt der 4. Finger hinauf. Muss das unbedingt sein?
Wie in diesem Beispiel, ist es oft angenehmer für die Hand, stattdessen mit dem 1. Finger hinunter zu strecken. (Er ist ja meistens stärker und länger als der 4. Finger.)
J. Brahms: Violinkonzert in D-Dur 1. Satz
Man kann aber auch den 2. locker hinaufstrecken. Bei den ersten vier Tönen dieses Taktes erweist sich der Fingersatz 1-3-4-3 im rasenden Tempo bei vielen als problematisch. Die grosse Terz zwischen C und E in der 1. Lage ist ja ein recht grosser Abstand für benachbarte Finger. Mit dem 2. Finger hinaufzustrecken und 1-2-4-2 zu spielen bietet sich hier an.
N. Paganini: Caprice Nr. 5
13. Welcher Fingersatz verspricht den kürzesten Weg am Griffbrett?
Diese Frage hilft v.a. bei Stellen, wo die Noten oft hin und her springen. Hier sind oft grosse Sprünge am Griffbrett nötig. Um Zeit und Energie zu sparen sucht man sich im Idealfall einen Fingersatz, der die Strecke, die man auf dem Griffbrett schaffen soll, am kürzesten hält.
In diesem Beispiel müsste man mit dem blauen Fingersatz von der 3. Lage in die 10. Lage springen. Praktischer ist der rote Vorschlag, mit dem man nur die 8. Lage braucht.
P. I. Tschaikowsky: Violinkonzert 1. Satz Kadenz
14. Was ist vorher und nachher?
Manchmal unternehmen wir etwas im Fingersatz bei einer Stelle nicht wegen der Stelle selbst, sondern als Vorbereitung für die kommende Noten.
Umgekehrt kannst du dieses Prinzip auch nutzen. Wenn bei einer Stelle der Fingersatz immer unbequem ist, nimm zuerst die vorigen Takte unter die Lupe. Kannst du vielleicht dort etwas ändern, sodass du besser in die Problemstelle hineinkommst?
In diesem Beispiel wäre der Lagenwechsel am Anfang des 8. Taktes nicht unbedingt nötig. Wenn man hier aber nicht in die 5. Lage hinunterrutscht, müsste man im zweiten Taktteil hinunterrutschen oder strecken, um das F zu erreichen. Das wäre viel komplizierter. Der Lagenwechsel gleich zu Beginn des Taktes (eben als Vorbereitung)fällt den meisten leichter.
H. Wieniawsky: Scherzo Tarantelle
15. Wie kann ich die leeren Saiten zum Schummeln nutzen?
Mach´s der linken Hand so leicht es geht. Wenn musikalisch nichts dagegen spricht, wieso nicht z.B. bei Terzen die leere Saite verwenden? In diesem Beispiel kannst du bei der Terz E-G 4-0 in der dritten Lage spielen statt 2-4 in der ersten Lage.
H. Wieniawsky: Polonaise in D-Dur
Und wie erstellst du deine Fingersätze? Teile es gern als Kommentar.
1 thought on “Unschlagbar statt unbrauchbar – 15 Wege zum besten Fingersatz auf der Geige”